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Titel
Urwelten und Irrwege. Eine Geschichte des Luzerner Gletschergartens und der Gründerfamilie Amrein, 1873–2018


Autor(en)
Bürgi, Andreas
Erschienen
Zürich 2018: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
212 S.
von
Lea Pfäffli

Eiszeitliche Gletschertöpfe, eine SAC-Hütte, das Skelett eines Höhlenbärs, Biedermeiermöbel, Pfahlbauer, ein Wildkirchlein, das Relief der Gotthardbahn und ein Spiegellabyrinth: Als 1872 Josef Wilhelm Amrein-Troller am Luzerner Stadtrand Grabungen beauftragte, war seine Idee, noch Kellereien für den neu gegründeten Weinhandel einzurichten. Als die Sprengmeister auf Überreste der eiszeitlichen Vergangenheit stiessen, liess Amrein-Troller aber den Weinhandel sein und wechselte ins Ausstellungsgewerbe. Profitierte der Gletschergarten bis zum Ersten Weltkrieg noch vom Boom des Fremdenverkehrs in Luzern, mussten später periodisch neue Antworten auf veränderte Reisegewohnheiten und Publikumsbedürfnisse gefunden werden. Nach und nach wurden die erdgeschichtlichen Zeugnisse mit allerlei Elementen ergänzt – und eines der kuriosesten Museen der Schweiz entstand. Mit über 600’000 Eintritten pro Jahr zählt der Gletschergarten heute zu den meistfrequentierten Museen der Schweiz.

Den Wandel der Organisationsstruktur und der inhaltlichen Ausrichtung des Gletschergartens zu beschreiben sowie diesen in politische, gesellschaftliche und kulturelle Entwicklungen zu verorten, ist das Ziel dieses Buchs des Literaturhistorikers Andreas Bürgi. Es basiert auf Recherchen eines Nationalfondsprojekts zur Erforschung der touristischen Entwicklung rund um den Luzerner Löwenplatz – der mit dem Löwendenkmal, dem Bourbaki-Panorama, dem Alpineum und dem Gletschergarten bereits 1900 touristischer Hotspot der Stadt war. Im Rahmen des Projekts wurde auch das Archiv des Gletschergartens systematisch erforscht. Urwelten und Irrwege entstand schliesslich als Auftrag der Stiftung Gletschergarten; Stiftung sowie Erben der Gründerfamilie des Museums unterstützten das Buch finanziell.

Erzählt ist die Geschichte des Gletschergartens chronologisch seit den Anfängen 1873 bis heute und gegliedert in acht Kapitel. Sie manifestiert sich als faszinierender Mobilisierungs- und Vernetzungsprozess und stetes Aushandeln zwischen Wissenschaft und Unterhaltung. Den Forschungs-Tourismus-Komplex bildet bereits der Institutionsname ab: Während Gletscher gängigerweise als dem Menschen feindliche Eiswüste imaginiert wurde, kombinierten die geschickten Museumsgründer den Begriff mit Garten, was als Einladung funktionierte. Der Gletschergarten vermochte denn auch, zahlungskräftige Touristen anzulocken wie auch das Interesse fachlicher Autoritäten aus ganz Europa zu wecken. Für beide Publika war der Gletschergarten Fenster in das Faszinosum Urzeit. Er knüpfte an den Erfolg der Publikationen Die Urwelt der Schweiz und Flora fossilis arctica des Paläontologen Oswald Heer an. Die am Luzerner Stadtrand gefundenen Gletschertöpfe waren ein weiteres Indiz einer Eiszeit ohne Mensch und somit eine Relativierung der biblischen Schöpfungsgeschichte.

Eine kolonialgeschichtliche Perspektive hätte hier das Faszinosum Urzeit noch weiter einordnen können. So war das Interesse an der Urgeschichte auch motiviert von Vorstellungen über den vermeintlichen Urzustand von «Naturvölkern» in den Kolonien. Auch der Gletschergarten zeigte die Welt als Ausstellung, wie Timothy Mitchell die Anordnungswut dieser von der kolonialen Erschliessung geprägten Zeit beschreibt.1 Dass der Gletschergarten die Schaulust an der erdgeschichtlichen Vergangenheit und der kolonialen Fremde verschränkte, zeigte sich nicht zuletzt im Ankauf eines neuen Elements für den Ausstellungspark, dem «Orient-Labyrinth» mit der Wachsfigurengruppe Sklave, Beduine und Opiumraucher. Die Geschichte des Gletschergartens ist eng mit der Gründerfamilie Amrein verwoben. Und diese war, so zeigt das Buch, geprägt von starken Frauen: Marie Amrein-Troller war in einer Zeit erfolgreiche und durchsetzungsstarke Unternehmerin, als die Überreste der Vormundschaft für verwitwete Frauen gerade erst abgeschafft worden waren. Mathilde Amrein folgte ihr als langjährige Geschäftsführerin. Margrit Schifferli-Amrein war erste Geschichtsschreiberin des Gletschergartens und archivierte die Materialien – ihr ist das Buch gewidmet. Nicht zuletzt beleuchtet das Buch Angestellte des Museums wie Louise Hegi, die – viersprachig – nahezu universell einsetzbar war und als Sekretärin, Führerin und Kassiererin arbeitete. Das Buch bietet somit nicht nur faszinierende Einblicke in Dynamiken einer Bürgertumsfamilie, sondern portiert Frauen als Akteurinnen einer Schweizer Unternehmensgeschichte. Das Buch besticht durch den Quellenkorpus. Stadt- und Staatsarchive, die Archive von SBB und SRF, das Archiv des Pfahlbaumuseums, Zeitungsarchive, zahlreiche Interviews und das Archiv Gletschergarten wurden ausgewertet. Letzteres ist das Archiv einer Institution, die ihre Geschichte sorgfältig dokumentiert hat: Ihr Bauarchiv dokumentiert Projekte, Pläne, Eingaben, Verträge, juristische Klärungen. Das Betriebsarchiv führt die praktisch lückenlose Buchhaltung seit 1873, Korrespondenzen, Tagebücher, Sitzungsprotokolle, Werbung, Führer, Medaillen und Reaktionen der Öffentlichkeit. Das Archiv über die Sonderausstellungen versammelt Material zu den 1969 eingeführten jährlichen Sonderausstellungen. Das Bildarchiv schliesslich dokumentiert die Entwicklung des Gletschergartens mit Fotos, Postkarten, Eintrittsbillets, Plakaten oder früher verwendeten Erläuterungstafeln. Knapp hundert Abbildungen aus diesem Quellenfundus illustrieren das Buch.

Urwelten und Irrwege ist anschaulich geschrieben und aus einem Guss erzählt. Jedes Kapitel endet mit einem Cliffhanger, der zum Weiterlesen anregt. Der Autor verzichtet im Lauftext auf konzeptionelle Überlegungen und Hinweise auf Forschungsdebatten, was je nach Lesepublikum unterschiedlich beurteilt werden mag. Als Auftragsarbeit beginnt die Arbeit mit einem Vorwort der Stiftungspräsidentin und des Museumsdirektors. Eine Einleitung und ein Schlusswort des Autors fehlen. Doch auch für eine breitere Leserschaft wäre ein solches Resümee zu begrüssen gewesen. So bleibt es Aufgabe des Lesepublikums, die packenden Kapitelerzählungen zu resümieren und zentrale Stränge und Argumente herauszudestillieren. Dieser Einwand schmälert den Genuss der Lektüre, der ein reichhaltiges Stück Unternehmens-, Frauen- und Familiengeschichte bietet, allerdings nur wenig.

1 Timothy Mitchell, Die Welt als Ausstellung, in: Sebastian Conrad, Shalini Randeria, Regina Römhild (Hg.), Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M. 2013, S. 438–466.

Zitierweise:
Pfäffli, Lea: Rezension zu: Bürgi, Andreas: Urwelten und Irrwege. Eine Geschichte des Luzerner Gletschergartens und der Gründerfamilie Amrein, 1873–2018, Zürich 2018. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 70 (1), 2020, S. 170-171. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00054>.

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